Erörterung zu Lukas Bärfuss’ „Hundert Tage“
These I
Es wurde die These in den Raum gestellt,
dass sich David Hohl, Hauptfigur aus „Hundert Tage“, mit seinem Verhalten in
Ruanda zwischen 1990 und 1994 schuldig gemacht hat.
Es ist anzunehmen, dass sich diese Schuld
auf den Genozid, der damals an den Tutsi, im Buch „die Langen“ genannt,
beziehen soll. Ich werde versuchen, die aus meiner Sicht wichtigsten Fakten,
die für bzw. gegen diese These sprechen, darzustellen und zu hinterfragen.
David Hohl selbst erklärt im Buch mehrere
Male, dass er und die Direktion grundsätzlich gewusst hätten, dass die Schweizer
Entwicklungshilfe in Ruanda sozusagen missbraucht wurde. Dies wird zum Beispiel
deutlich auf Seite 123/124 des Buchs. Es wird erklärt, dass die Schweizer Hilfe
beim Bau von Radiostationen und der Ausbildung von Journalisten zu schlechten
Taten geführt hat. Insbesondere haben die Journalisten in Kigali das Radio als
Propagandamittel benutzt und zu Morden an den Tutsi, an dieser Stelle
„Kakerlaken“ genannt, aufgerufen. Das Wissen über den Missbrauch der
Hilfeleistungen sowie die Tatsache, dass trotzdem nicht gehandelt wurde, lassen
David Hohl und die Direktion zumindest mitschuldig an den grausamen Taten
erscheinen, die zu jener Zeit in Ruanda begangen wurden.
Davids Teilnahme an den „Hetzversammlungen“
der „Kurzen“, die er mit Agathe besucht (S. 133) scheint ebenfalls auf seine
Mitschuld hinzuweisen, oder zumindest fragwürdig zu sein. Mit seiner
offensichtlichen Unterstützung der Taten, die an den Tutsi verübt werden, macht
David sich schuldig. Dies vielleicht nicht direkt an den Morden, aber doch an
der Saat des Hasses gegen die „Langen“ ,welche an der Versammlung gesät wird.
Woran David Hohl in seiner Zeit in Ruanda
ebenfalls klar schuldig zu sein scheint, ist der Mord an seinem Gärtner
Théoneste durch den Milizionären Vince und seine Anhänger.
David sieht, wie Théoneste seine
Identitätskarte, welche ihn zweifelsfrei von Tode bewahrt hätte, aus der Tasche
fällt (S. 194). David macht keine
Anstalten den Gärtner auf diesen Verlust hinzuweisen. Auch dann noch nicht, als
Vince ihn vor das Haus führt, um ihn zu töten.
David macht zwar deutlich, dass der Tod von
Théoneste seiner Meinung nach nur eine gerechte Strafe für dessen Mord an der
Haushälterin Erneste sei. Dies rechtfertigt aber in keiner Weise sein
Fehlverhalten, noch mindert es seine Mitschuld an jenem Mord.
Auf der Seite 129 macht David deutlich,
dass er bzw. die Direktion eine lange Zeit geglaubt hätten, dass die Morde und
Verfolgungen lediglich auf die Politiker und Militärs zurückzuführen seien,
welche mit der Lage überfordert wären. Dies scheint als Argument gegen die
Schuld von David am Völkermord. Er selbst bemühte sich, wenigstens in seinem
eigenen, kleinen Tätigkeitsfeld die Ordnung aufrecht zu erhalten und arbeitete
weiter wie bisher. Er sah nicht ein, warum er der Regierung Leistungen kürzen
sollte. Die Beamten waren seiner Ansicht nach ja nur kurzzeitig mit der
Situation überfordert. Das alles würde sich wieder einpendeln. David erwähnt auch
einmal, die Beamten, welche die Direktion um Hilfeleistungen bitten würden,
zeigten ihm während der Bürozeiten ein anderes Gesicht als nach Feierabend. Am
Tag wären sie ehrliche Menschen, die wirklich etwas verändern wollten und am
Abend würden sie mit den Mitteln, die sie bekommen haben, den Genozid
vorantreiben. Damit, dass trotz dieser Einsicht noch Hilfeleistungen
ausgesprochen werden, scheint sich niemand wirklich schuldig zu machen. Es ist
ja die ganze Aufgabe der Direktion, diese Hilfe zu leisten. Wenn sie nun
missbraucht wird, ist dies nicht primär die Schuld der Entwicklungshelfer.
Als David 1994 mit Vince und seine Kumpanen
schließlich aus Kigali flüchtet, fühlt er sich schuldig, dass er
offensichtliche Mörder zu seinen Freunden nimmt. Allerdings ist David nur um
sein eigenes Leben bedacht und die Tatsache, dass er sich zu diesem Zweck mit
Mördern verbündet, erscheint durchaus legitim. Dies, weil Davids Flucht mit
Ihnen nichts mehr an den Taten, die sie begangen haben, ändern kann und die
Zusammenarbeit aus einem ganz anderen Grund erfolgt.
Etwas, das ebenfalls für Davids Unschuld am
Genozid sprechen mag, ist seine Meinung bzw. seine politische Einstellung.
Offensichtlich sind die Hutus oder „die Kurzen“ eine Mehrheit im Volk. David
als Demokrat muss nun beinahe Ihre Meinung unterstützen, auch wenn dies nur auf geistiger Ebene der Fall
ist. Klar müssen er und die Direktion die Taten und Morde jener Leute
verurteilen. Andererseits haben sie keine Chance, etwas gegen das Abschlachten
der „Langen“ zu unternehmen. Wenn sie daher nicht einschreiten oder nur zaghaft
protestieren macht sie das nicht zu Schuldigen am Genozid als Ganzes.
Abschließend kann ich sagen, dass David
Hohl weder ganz schuldig noch ganz unschuldig ist. Im direkten Bezug auf die
Massenmorde an den Tutsi kann David meiner Meinung nach nicht schuldig
gesprochen werden, da er nicht an den Morden allgemein beteiligt war. Allerdings
trifft David eine gewisse, recht grosse Schuld an einzelnen Taten, die verübt
wurden. Auch wenn er nicht direkt daran beteiligt war, so ließ er doch schlimme
Dinge geschehen, welche er hätte verhindern können. Die Verhinderung des Mordes
an Théoneste zum Beispiel hätte David nicht einmal in Gefahr gebracht.
Ein ebenfalls fragwürdiger Aspekt an Davids
Handlung ist, so denke ich, wie er zeitweise offen mit den Milizen
sympathisiert.
Da ich allerdings nicht weiß, wie ich
selber in einer solchen Situation gehandelt hätte, welche zweifellos sehr
kompliziert und schlimm ist, steht es mir fern, David Hohl weder eindeutig
schuldig noch eindeutig unschuldig zu sprechen.